„Dann mach doch was du willst, du blöde Kuh!“ schreit Christian.
„Das mache ich auch, du Penner!“, brüllt sie ihm entgegen, während sie aus dem Haus läuft.
Die Tür knallt hinter ihr ins Schloss.
Sabine (39) ist verzweifelt und traurig. Sie weiß nicht mehr, was sie tun soll.
Die Tage, in denen sie mit Christian kein Gespräch mehr führen kann, möchte sie nicht mehr
zählen. Sobald sie mit ihm zu sprechen beginnt und ihre Beziehung thematisiert, wird er
unsachlich und beschuldigt sie, die Familie zerstört zu haben. Die Lust, überhaupt mit ihm zu
reden, war ihr bereits vor Wochen vergangen.
Bereits vor ihrer Hochzeit vor 16 Jahren bezeichneten Freunde und Bekannte sie immer
wieder als „dauerhaft verliebt“ und „Traumpaar“. Und so war es ja auch. Alles schien wie aus
dem Bilderbuch. Erst die Hochzeit, dann arbeiteten beide an ihren Karrieren und gewannen
schnell an finanzieller Unabhängigkeit. Die perfekte Basis, ein Haus auf dem Land zu bauen,
das zum Familiennest werden sollte. Die Krönung ihres Glücks sollten die Kinder Marie und
Mathieu werden. Sabine blieb zunächst 6 Jahre lang zuhause und arbeitete seitdem nur noch
halbtags.
Während sie das Familienleben managet, fokussiert sich Christian vermehrt auf seinen Beruf.
Christian hatte in den letzten 1,5 Jahren wenig Zeit für die Familie und litt zeitnah unter dem
Stress in der Firma. Er muss häufig vereisen und arbeitet nicht selten auch abends und am Wochenende zuhause. Das Familienleben trat für ihn hinter seiner beruflichen Priorität zurück; die Kommunikation mit Sabine und den Kindern ebbte ab. Mehr als ein flüchtiges
„Wie war dein Tag?“ mit einer dahingeworfenen Antwort wie „Ach, wie immer!“ wurden kaum mehr gewechselt.
Intensive Gespräche drehten sich nur noch um seine Probleme in der Firma. Die Ausflüge mit
den Kindern unternahm Sabine allein, weil Christian entweder zu beschäftigt oder zu müde
war.
Bei einem dieser Ausflüge lernte Sabine Dennis kennen. Dennis war zu dem Zeitpunkt
alleinerziehend. Er hat einen Sohn im Alter der Kinder. Obwohl Dennis im Nachbarort wohnt,
war ihm Sabine noch nie begegnet. Sein Äußeres fiel ihr sofort ins Auge: 1,85m groß, braune
Haare mit leichten, grauen Strähnen, die ihn angenehm reif wirken lassen. Man sieht, dass er
Sport macht. Er ist fit und doch nicht übermäßig trainiert. Er kleidet sich sportlich, ohne zu
lässig zu wirken.
Als sie sich erstmals unterhielten, erzählte er, dass seine Frau vor ein paar Jahren gestorben
war und er nun mit Sohn Philipp allein lebt. Trotz des Schicksalsschlags ist er lebensfroh,
witzig und unternimmt gerne etwas in der Natur und gemeinsam mit Philipp.
Seit der ersten Begegnung trafen Sabine und Dennis immer häufiger rein zufällig aufeinander
und sie bemerkt, wie sehr ihr die charmante und witzige Art gefällt. Ja, sie hat es schon
länger vermisst, dass ihr jemand Komplimente macht und auf die Kleinigkeiten des Lebens
achtet. Sie spürte, dass sie sich zu Dennis hingezogen fühlt. Je mehr sie sich in das Gefühl
fallen lässt, umso mehr wurde ihr bewusst, was sie in ihrer Ehe vermisste.
Darum beschloss sie, mit Christian zu reden.
Leider lief dieses Gespräch komplett anders als erwartet. Als sie nur den Namen Dennis
erwähnte, schlug seine Stimmung sofort um. „Aha, ein anderer Mann steckt dahinter“, sagte
er. Er habe schon bemerkt, dass irgendwas anders mit ihr ist. Sabine wollte mit ihm über
eine Paarberatung sprechen. Aber das war nicht möglich. Christian war so verletzt, dass er
laut wurde und sie sogar beleidigte.
Das ist mittlerweile 6 Wochen her. Seitdem ist die Stimmung nicht besser geworden.
Christian kommt manchmal erst spät in der Nacht nach Hause, weil er direkt nach der Arbeit
in eine Bar geht oder zu einem Freund fährt. Er spricht nur das Notwendigste mit ihr und
steigert sich immer mehr in seine Traurigkeit und Opferrolle. Er trinkt inzwischen täglich und
viel – und ist schon aus diesem Grund nicht ansprechbar.
In der Zwischenzeit haben sogar die Kinder etwas von dem Konflikt mitbekommen und
Sabine hörte, wie Mathieu (8) zu Marie (10) sagte: „Papa meinte, Mama hat uns nicht mehr
lieb“.
Sabine fühlt sich hilflos. Sie weiß nicht, was sie tun soll. In den letzten Wochen kann sie kaum
noch ein Auge zu tun und verspürt auch keinen Appetit. Sie hat einige Kilo abgenommen.
Dabei hat alles ganz harmlos begonnen.
Sabine trifft sich häufig mit ihren Freundinnen – und mit Dennis. Es geht ihr emotional nicht
gut. „Wie kann ich meine Beziehung retten?“, ist eine der Fragen, die sie bis spät nachts
umtreiben. Als sie ihrer Freundin Annette von der Situation erzählt, reagiert sie direkt: „Sag
mal, warum trennst du dich nicht von Christian? Dennis passt doch eh viel besser zu dir. Du
bist doch schon lange nicht mehr glücklich!“
Sabine fühlt sich wie vom Blitz getroffen. Hat Anette recht? Sabine fühlt sich ertappt, weil sie
diese Sehnsucht zu Dennis spürt, sie aber verdrängt. Sie darf das nicht. Sie ist verheiratet. Sie
wäre aber jetzt gern bei ihm. Und gleichzeitig möchte sie Christian nicht weh tun, ihn
enttäuschen und erst recht nicht ihre Ehe scheitern lassen. Was soll mit den Kindern
passieren? Das gemeinsame Haus und alles, was sie zusammen aufgebaut haben? Sie
möchte niemanden verletzen. Sie ist verzweifelter denn je….
Ihre Gefühle für Dennis sind stark. Sie hat sich in Dennis verliebt.
Für Christian empfindet sie ebenfalls sehr stark. Die vielen Jahre mit ihm an ihrer Seite haben
die Liebe wachsen lassen. Seitdem er sich aber mehr und mehr von der Familie abwendet,
um andere Prioritäten zu verfolgen, haben sich ihre Gefühle verändert. Was bleibt ist die
tiefe Verbundenheit. Was hinzukommt sind Mitleid und Scham. Die Erfahrungen der letzten
Monate haben Wunden hinterlassen. Sie hat die Freiheit geschnuppert und möchte
ausbrechen. Aber wie soll das gehen, ohne dass die Kinder unter der Trennung leiden?
Ist eine offene Beziehung der richtige Weg? Oder wäre sogar eine Mehrfach-Beziehung
(polyamore Beziehung) denkbar? Oder doch die Trennung von Christian? Oder trifft sie sich
einfach heimlich mit Dennis, ohne weiter mit Christian einen Rettungsversuch zu
unternehmen?
Sabine weiß es nicht und wägt grübelnd ab, ohne zu einem Ergebnis zu finden. – Wie so viele
Menschen steckt auch sie in einem Konflikt aus Werten, Bedürfnissen, gesellschaftlichen
Erwartungen und Normen.
Sabines Weg kann drei Richtungen einschlagen: Sie und Christian bleiben beieinander und
ertragen, jeder für sich und sie miteinander, die Situation. Ein Modell, das viele Paare
eingehen, um die gemeinsamen Kinder nicht zu belasten. – Ein Trugschluss, immerhin
merken alle in der Familie, dass der Schein der heilen Beziehung trügt.
Eine weitere Option besteht in einer Trennung, deren Ausgang zu Beginn offen ist.
Eine dritte Möglichkeit findet sich in einer Mediation oder einem systemischen Coaching,
das Bedürfnisse, Ressourcen und Emotionen schonend aufdeckt. Ein Weg, der Türen zu
einem gemeinsamen Weg, beispielsweise auch zu einer Trennung in Freundschaft, öffnen
kann.
Aktuell arbeiten Sabine und Christian mit mir an diesem Weg, den ich selbst ebenfalls
kennenlernen musste – und mich nun umso besser in Paare hineinversetzen kann, die eine
ähnliche Situation zu bewältigen haben. Für uns geht es in der gemeinsamen Arbeit darum,
den Zusammenhang von Bedürfnissen, Abhängigkeiten und familiären Verstrickungen
aufzudecken und daraus die passenden Schlüsse zu ziehen.
Wie es mit Sabine und Christian weitergeht, erfahren Sie in einer anderen Story auf meiner
Website unter „Fallgeschichten“.